Peter Maier | 24.09.2023
40 Jahre lang war ich Lehrer an Bayerischen Gymnasien. In den ersten 20 Jahren hatte ich immer wieder große Schwierigkeiten vor allem mit Klassen mit einem hohen Jungenanteil. Vereinfacht gesagt lag dies auch daran, weil die Jungs meine Autorität nicht achteten. Bald wurde mir klar, dass dies mit meiner ungeklärten Vaterbeziehung zu tun hatte. Mein Vater war in der Nazi-Zeit als "Hitlerjunge" aufgewachsen und davon wohl sehr geprägt. Die Folge: eine sehr autoritäre Erziehung mit vielen Verboten. Ich konnte mich in meiner Pubertät nicht richtig entwickeln und daher später auch "meine" Jungs in der Schule nicht wirklich verstehen in ihren Bedürfnissen und Anliegen. Sie hätten einen ihnen zugewandten Lehrer mit echter Autorität gebraucht, der sie liebt, ihnen Klarheit gibt und Grenzen setzt, an dem sie sich reiben und orientieren können. So ein Lehrer war ich leider nicht. Was sollte ich tun?
Startpunkt Visionssuche
Um die Jahrtausendwende stieß ich auf das Ritual der Visionssuche. Sofort wusste ich, dass ich mich der Konfrontation mit mir selbst stellen wollte, die in der viertätigen Auszeit allein in der Natur geschieht - mit 100 Stunden Alleinsein. In den Jahren 2000, 2003 und 2007 unterzog ich mich drei Mal dieser intensiven Zeremonie. Im Spiegel der Natur kam sehr viel hoch in mir und ich konnte viele Aspekte meiner Vaterbeziehung klären und als Mann nachreifen. Als ich 2007 von den Nochbergen in den Kärtner Alpen herabstieg, wusste ich, dass ich solch ein Ritual auch meinen Schülern anbieten wollte - vor allem den Jungen. Denn nun wusste ich, was sie wirklich (!) brauchten: ein geeignetes, für ihr Alter stimmiges Übergangsritual, durch das sie die Jugendzeit schrittweise verlassen und wichtige Impulse zu mehr Selbstvertrauen, Selbständigkeit und Selbstverantwortung auf ihrem Weg hin zum Erwachsenwerden bekommen konnten.
Visionssuche für Jugendliche
Das für Jugendliche geeignete Ritual heißt "WalkAway" - eine Visionssuche im Kleinen, passend für 16- bis 18-jährige Jugendliche. WalkAway würde ich so übersetzten: "Gehe Deinen Weg allein hinaus in die Natur, konfrontiere Dich mit dir selbst, schmore im eigenen Saft und finde dabei heraus, wer du bist und was du tun willst - für dich selbst und für die Gemeinschaft." Im Konkreten bedeutet dies, dass die Jugendlichen nach einer zweitätigen Vorbereitung für 24 Stunden allein in den Wald gehen - ohne Essen, ohne Zelt und vor allem ohne Smartphone. Sie gelten in dieser Solozeit als komplett unsichtbar für andere Menschen.
Allein im Wald
Dieses Ritual habe ich viele Jahre lang durchgeführt, mit meinen Schülern und mit Jugendlichen aus ganz Deutschland. Die große Mehrheit waren Jungen, auch wenn es sehr mutige Mädchen gab, die sich dieser Zeit allein im Wald ebenfalls stellten. Am Morgen des vierten Tages warteten schon die angegreisten Eltern vor dem Wald, als wir Leiter die Initianden wieder aus dem Wald heraustrommelten. Im nahegelegenen Seminarzentrum konnte man dann drei Stunden lang eine Stecknadel fallen hören, als jeder einzelne von seiner Zeit von "allein da draußen im Wald" erzählte und dafür anschließend ein sehr bestärkendes Feedback von uns Leitern und von den Eltern bekam. Die Kommunikation lief dabei stets mit einem Sprechstab ab, um den Worten das nötige Gewicht zu geben.
Gemeinsam zum Erwachsenwerden
Als alle mit ihren Geschichten durch waren, gab es ein schönes gemeinsames Essen, das die Eltern von zu Hause mitgebracht haben. Ich kann als WalkAway-Leiter nur meinen Hut vor all den mutigen Jungen und Mädchen ziehen, die sich dieser Mutprobe gestellt haben. Viele von ihnen haben dadurch große Schritte auf dem Weg zu ihrem Erwachsenwerden machen können. Dies soll zum Schluss die WalkAway-Geschichte eines Jungen zeigen. Nenne wir ihn Robert. Diese Geschichte trägt die Überschrift: "Der Junge, der mit den Wildschweinen tanzte".
Roberts Geschichte
Robert schnitzte sich während des Tages einen langen Speer aus einem Ast, vielleicht auch, um sich damit die Zeit zu vertreiben. Als es ihm nachts langweilig wurde, brach er zu einer Wanderung durch den dunklen Wald auf - seinen Speer fest in der Hand. Nach kurzer Zeit geriet er in eine Horde von Wildschweinen, die unter tags in einem Dickicht hausten. Zunächst war er für einen Moment starr vor Schreck, denn mit Wildschweinen ist nicht zu spaßen, vor allem mit den Muttersäuen nicht, die instinktiv ihre Frischlinge verteidigen, falls sie diese bedroht fühlen.
Vom Schreck zur Wildsau
Nach der berühmten Schrecksekunde passierte jedoch etwas Entscheidendes in Robert: Er wusste plötzlich, dass er jedem Schwein, das ihn angreifen sollte, seinen Speer mit voller Wucht reinrammen würde. Offensichtlich wussten dies auch die Wildscheine, die ihn umringten. Sie griffen ihn nicht an, sondern akzeptierten ihn in ihrer Mitte - als einen von ihnen. In diesem Moment ging die Wildschweinkraft auf Robert über, er wurde von dieser archaischen Energie durchflutet und fühlte eine ungeheure Kraft in sich wie nie zuvor. Er wurde selbst zu einer Wildsau!
Als Robert am Morgen aus dem Wald kam und in einer Zeremonie wieder "sichtbar" gemacht wurde, stand kein Junge mehr vor uns Ritualleitern, sondern ein junger, entschiedener Mann. Selten hahe ich solch eine starke Verwandlung vom Jungen zum Mann wie beim WalkAway von Robert erlebt.
Noch ein Nachtrag: Als Robert nach den Sommerferien wieder ins Gymnasium kam, war er auch dort nicht wieder zu erkennen. Er wurde von 160 (!) Schülern und Schülerinnen zum Jahrgangsbesten, absolvierte mit Bravour sein Abitur und gewann auch noch einen Preis in "Jugend forscht" (im Fach Chemie) in Bayern.
Was aber hat der WalkAway mit der Mannwerdung zu tun? Sehr viel, meine ich. Denn bei diesem Ritual, das natürlich eine mehrmonatige Vorbereitung hat, werden Jugendliche mit wesentlichen Aspekten des Erwachsenseins und der Mannwerdung konfrontiert. Der WalkAway kann starke Impulse für eine positive Entwicklung geben und gerade für Jungs (aber nicht nur) ist dies bitter nötig in heutiger Zeit!
Peter Maier
(Gymnasiallehrer a.D., Jugend-Initiations-Mentor und WalkAway-Leiter)
Nähere Infos: www.initiation-erwachsenwerden.de
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