August 2

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Mono no aware – die sanfte Empfindsamkeit des Unbeständigen


Thomas Feldmann | 31.07.2024

Mit Männern auf den Grund gehen… – Ein philosophisch-psychologischer Essay

Männerberatung, Coaching von Männern, Männerarbeit, Männerbildung, Unterstützung von und Therapie mit Männern berührt nicht nur deren persönliche Lebensgestaltung. Immer wieder sind es die existentiellen Themen des Menschseins, die Raum finden, wenn man als Begleiter dafür offen ist, sie empathisch und respektvoll, entschieden und mutig anspricht – und selbst keine Angst hat, sich den existentiellen Erfahrungen zu nähern und Männern darin zu begegnen. Diese Themen berühren auch mich als Begleiter, wenn ich sie zulasse.

Als Männerbegleiter will ich kein Helfer (mehr) sein, um Lösungs-, Handlungs- und Zustandsstrategien umzusetzen. Auch weiss ich nie, was ein Mann braucht und tun muss. Viel mehr begleite darin, in Krisennöten und Veränderungswünschen, die tieferen, darunterliegenden Bedürfnisse und Anliegen zu ergründen und einen Zugang dazu zu finden. Und meist verändert das Sein damit, das Empfinden darin und öffnet Ressourcen und Weite.

Je bewusster und klarer ich den Resonanzraum nicht nur für vorhandene Lebenskraft, sondern auch für die grundmenschliche Erfahrung von Unbeständigkeit und Vergänglichkeit und damit auch von Abschied und Trauer in mir und meinen Begleitungen eröffnet habe, desto mehr werde ich darin gefunden. Männerarbeit ist für mich ohne diese Dimension gehaltloser Aktivismus, ohne kreative und heilsame Wirkung für Mensch und Welt.

Zwei Zitate zum Einstieg:

Die entscheidende Frage für den Menschen ist:
Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?
Das ist das entscheidende Kriterium seines Lebens.

C.G. Jung (1875 – 1961)

 

So viele Dinge
ruft ins Gedächtnis mir.
Die Kirschenblüte.

Bashô (1644 – 1694)

 

Michael hat die Melodie und den Rhythmus seines Lebens verloren. So drückt er es aus. Sein Partner ist unerwartet gestorben. Wie soll er umgehen mit seiner bleibenden Liebe, die kein Gegenüber mehr hat? Darin sucht er Unterstützung. Er will und kann nicht aufhören zu lieben. Er möchte diese Melodie weiter hören, den Rhythmus spüren und weiter mit seinem Partner verbunden bleiben, auch wenn dieser gestorben ist. Michael beginnt, Instrumente zu bauen. Trommeln. Flöten. Er vertieft sich darin in die Suche nach der verlorenen Melodie und dem Rhythmus seines jetzigen Lebens. Er betrauert darin das Verlorene, durchlebt Schmerz, erinnert das Gemeinsame.

Ob sich in unserem Leben viel ändern würde, wüssten wir, wie viel Lebenszeit uns bliebe und wie viel Zeit wir mit unseren Lieben durchleben dürften? Ich weiss es nicht. In Zeiten, in denen wir die Lebenskraft bedroht erleben, bricht die Gewissheit in unser Leben ein, dass nichts ewig dauert und alles unvorhersehbar zu Ende sein kann. So erlebt es Michael.

Endlichkeit ist die existentiellste Wahrheit allen Lebens. Lebenssinn kann uns das Erkennen geben, endlich zu sein und dass alles, was wir lieben und erschaffen, in diesen Lauf der Zeit eingebunden ist. Werke mögen uns überdauern. Wir selbst überdauern uns nicht.

Wie können wir mit dem Wissen erfüllt leben, dass alles unbeständig ist und ein Ende hat? Lohnt es sich, in vergängliches Glück zu investieren? Was lässt uns lieben, wenn es doch unausweichlich ist, dass dieses Lieben enden wird? Mir scheint, als wollten wir in der Liebe der Vergänglichkeit trotzen.

Es ist ein brüchiger Trost, dass Liebe ewig erinnert. Auch Erinnerungen verblassen im Fluss der Zeit. Und doch lieben wir. Menschen. Orte. Tätigkeiten. Ideen. Leidenschaftlich. Mit Hingabe. Schöpferisch und visionär. Wie leben wir mit der Spannung von Liebeshingabe und Endlichkeit?

Trauern ist tiefstes Menschentum. Trauern ist die menschliche Regung, die Liebe und Endlichkeit verbindet. Weil wir lieben, können wir trauern. Weil wir trauern, können wir lieben. Nur was wir lieben und liebten, können wir betrauern. Auch unsere eigene Endlichkeit. In der Trauer bejahen wir, was ist und wer wir sind.

Manchmal befällt uns in tiefster Freude eine stille Melancholie. ‘Mono no aware’, die sanfte Empfindsamkeit des Unbeständigen, wie in Japan diese Gleichzeitigkeit von Freude, Genuss einer endlichen Schönheit und Trauer genannt wird. Sie findet im Anblick der zartschönen Kirschblüten ihre Entsprechung. Schönheit ist nicht anders zu bewahren, als in der Freude des Augenblicks.

Sowohl die Natur als auch die Welt der Menschen ist unbeständig und unfassbar, aber gerade dann, wenn man sich dem überlässt, ohne sich dagegen aufzulehnen oder dagegen anzugehen, wird man nicht untergehen.

Trauer ist Zustimmung, oft schmerzhaft. Sie schenkt uns eine heilende und tröstende Kraft, in Verlust und Schmerz an den Grund zu gehen, aber darin nicht zu Grund zu gehen. Trauer enthüllt, wer wir zutiefst sind und drängt uns immer wieder in neue Weisen unseres Seins. Nicht nur, den eigenen Verlust zu begreifen, sondern auch die neue Person, die wir in der Trauer geworden sind.

Es ist altes Menschenwissen: wer mit dem Geheimnis des Lebens in Berührung kommt, wird davon ergriffen und bewusster, wacher und dankbarer leben. Die Dankbarkeit für gelebtes Leben, für erfahrene und geschenkte Liebe, lässt uns diese Spannung zwischen Sein und Vergehen aushalten.

Nach drei Jahren öffnet sich Michael wieder für die Liebe. Die Melancholie, dass auch diese Liebe endlich ist, begleitet ihn in stillen Momenten. Auch darin erlebt sich Michael als Mann.

 

Thomas Feldmann

Netzwerkpartner im Männernetzwerk. Hat Geistes- und Humanwissenschaften studiert, ist psychotherapeutisch ausgebildet. Er leitet seit über 20 Jahren eine Praxis für Beratung und Therapie in Luzern, u.a. eine MännerPraxis. Er ist Trauer- und Sterbebegleiter und Supervisor, Referent, Autor und Kursleiter in Trauer- und Sterbebegleitung und Palliative Care.

www.lebenstraining.ch

 

Kirchblüten - Thomas Feldmann 2024

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  1. Danke Thomas

    für diese tiefe philosophische und doch so reale Verbindung von schmerzhafter Trauer und gleichzeitiger Sinnhaftigkeit, ¨sich aufrichtige Trauer erlauben zu dürfen. Es lohnt sich ….

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