Christof Suppiger | 16.11.2024
Bild vom zitierten NZZ-Artikel
Die Geschichte eines Schweizer Offiziers und seines Enkels zeigt exemplarisch, wie General Henri Guisans autoritäres Führungsideal drei Generationen einer Familie prägte – und wie der Enkel heute einen Weg zwischen militärischer Härte und emotionaler Offenheit sucht. Ein Einblick in die Transformation männlicher Identität von der Kriegsgeneration bis in die Gegenwart und Metamoderne.*
Die Prägung durch Guisan: General Henri Guisan, Oberbefehlshaber der Schweizer Armee während des Zweiten Weltkriegs, wurde zu einem Symbol der Wehrhaftigkeit und Unabhängigkeit. Für meinen Großvater, Oberst-Leutnant i.G., Eduard Suppiger, war Guisan mehr als nur ein Militärkommandant – er war eine prägende Vaterfigur und moralischer Kompass, besonders bedeutsam nach dem frühen Verlust seines eigenen Vaters.
Der Rütlirapport: Wendepunkt der Geschichte Der legendäre Rütlirapport im Sommer 1940 markierte einen entscheidenden Moment. In einer Zeit, als die Schweiz von den Achsenmächten umzingelt war, versammelte Guisan die Armeeführung auf der historischen Rütliwiese. Sein Reduit-Konzept – der strategische Rückzug in die Alpen – wurde zum Symbol des unbeugsamen Widerstandswillens. Für meinen Großvater war diese Begegnung lebensverändernd und bestärkte seine Philosophie der Härte.
Härte als Lebensprinzip Die Philosophie der Härte, die mein Großvater verkörperte, wurde durch seine Bewunderung für Guisan noch verstärkt. Schon als Achtjähriger hatte Eduard Suppiger seinen Vater verloren und die Rolle des Stammhalters übernehmen müssen. Er wurde zu einem Mann, der sich nie eine Schwäche erlaubte und dasselbe von seinem Umfeld forderte. Als Lehrer, Sportler und Politiker war er gefürchtet und respektiert.
„Die Härte meines Grossvaters war nicht nur eine Folge seines persönlichen Schicksals“, reflektiere ich heute. „Es war auch eine Folge dieser Zeit, in der die Erwartung an die Männer war, stark und unnachgiebig zu sein.“
Die Ambivalenz Guisans: Trotz der Verehrung gab es Schattenseiten: Guisan zeigte Sympathien für autoritäre Regime wie das faschistische Italien unter Mussolini. Die Unsicherheit der Zwischenkriegsjahre vertiefte die Härte meines Großvaters, und Guisans autoritäre Züge fanden bei ihm Anklang. Moralische Grauzonen existierten für ihn nicht – es zählte nur das Überleben der Nation.
Einfluss auf das Familienleben Die Verehrung für Guisan prägte auch das Familienleben der Suppigers. Mein Vater erlebte eine strenge, fast unnachgiebige Erziehung. Fehler wurden nicht toleriert, Schwächen verachtet. Die patriarchalen Werte, die Guisan verkörperte, bestimmten den Alltag. Prügelstrafe war die Norm – für meinen Großvater der einzige Weg, seine Kinder „stark fürs Leben zu machen, abzuhärten“.
Ein Vermächtnis der Härte Der Tod von Henri Guisan im Jahr 1960 führte zu einer nationalen Trauer, wie sie die Schweiz selten erlebt hatte. Guisan wurde als Held verehrt, und auch mein Großvater nahm an den zahlreichen Gedenkveranstaltungen teil. Doch mit der Zeit begann sich auch eine kritische Auseinandersetzung mit Guisans Vermächtnis zu entwickeln. Sein autoritärer Führungsstil und seine Nähe zu faschistischen Regimen warfen Fragen auf, die viele seiner Bewunderer lange verdrängt hatten.
Reflexion und Wandel Heute erkenne ich die tiefe Verwurzelung dieser patriarchalen Werte in meiner Familie. Die Härte war sowohl Schutz als auch Last, formte Generationen von Männern, die nicht lernten, Schwäche zuzulassen oder über Gefühle zu sprechen. In der heutigen Zeit stelle ich mir die Frage: Gibt es andere Wege, Stärke zu zeigen? Wege, die nicht nur auf Härte und Disziplin beruhen, sondern auch auf Mitgefühl und Verletzlichkeit?
Versöhnung und Neuanfang
Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit diversen Methoden** hat mir den Weg zu einer Versöhnung mit meinem Vater eröffnet. Unser früher von Rivalität geprägtes Verhältnis wandelt sich zu einer authentischeren, liebevolleren Beziehung. Mit 98 Jahren zeigt mein Vater nun auch seine verletzlichen, mitfühlenden Seiten.
Voller Hoffnung lade ich meinen Vater ein, gemeinsam neue Wege zu gehen und sei es, etwas näher beieinander zu sitzen, weil wir beide etwas hörbehindert sind 😉 Ich bin zuversichtlich, dass wir in dieser Begegnung auf Augenhöhe neue Facetten in einander entdecken können: Verletzlichkeit, Mitgefühl, Zärtlichkeit. Und indem ich diese Seiten in mir (!) und zunehmend auch bei ihm sehe und annehme, kann ich ihn endlich von Herzen lieben.
Diese Transformation führt zu einer Neudefinition von männlicher Identität – weg von reiner Härte, hin zu einem ganzheitlicheren Verständnis von Stärke. Ein Weg, der mich zu einem reiferen, glücklicheren Selbst führt.
Mit Mut zum Risiko, dem Bewusstsein von Unvollkommenheit und Nicht-Wissen
Euer Christof
Quellen, Weiterführendes und Vertiefendes
«Ein Glücksfall in der gefährlichsten Phase unserer Geschichte»: Wie General Guisan zum Helden der Schweiz wurde – und was er uns heute noch sagt
Burnout, Gemeinwohl und Kapital
Abschied und Willkomm in der integralen Politik
* Metamoderne ist ein kulturelles und intellektuelles Paradigma, das als Reaktion auf die Postmoderne entstanden ist und Elemente von Modernität und Postmoderne integriert. Es zielt darauf ab, emotionale Tiefe, Authentizität und ein Streben nach Sinnhaftigkeit mit der ironischen Distanz und dem kritischen Denken der Postmoderne zu verbinden. Dabei setzt die Metamoderne auf ein „sowohl als auch“- Denken, das Widersprüche anerkennt und durch Ambivalenz zu einer neuen Form von Optimismus und Engagement führt.
** Methoden wie Meditation, Clowning, Ehrliches Mitteilen, Traumaheilung, Gemeinschaftsbildung, Systemaufstellungen, Lebenspraxis Yoga, Pädagogik und Psychologie, Meditation, Männliche Archetypen befreien in der emanzipatorischen Männerbewegung.
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