November 21

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Märchen Bruder Baum


markus weidmann, frühling 2017


Einst, vor lang, lang Zeit, stand mächtig Baum an andächtig Fluss.

Seine Wurzeln, so wurd erzählt, reichen so tief hinunter, dass sie halten den Grund der Welt; und seine Äste reichen über den Himmel hinaus so weit, dass sie tragen des Himmels Dach.

Jedes Jahr nahm sein Stamm an Umfang zu; dann, wenn der Winter vom Baum herabstieg, weil der Schnee in seinen Händen schmolz; dann, wenn der Frühling auf den Baum kletterte, um schlafend Blüten wachzuküssen.

Eines Nachts setzte sich der Vollmond auf des Baumes höchsten Ast und flüsterte mit magisch Stimm: «Alles ist bereit.»

Des Baumes Stamm riss auf. Der Riss wuchs, weitete sich. Rinde löste sich. Nackt Holz zeigte sich.

Im Spalt erschien eine Hand. Eine zweite Hand. Sie pressten das Holz auseinander, weiteten den Spalt.

Der Baum zitterte vor Schmerz; still weinte er harzene Tränen.

Ein Kopf zeigte sich im Spalt. Ein Oberkörper. Füsse.

Regen setzte ein, strömte liebkosend sanft über den nackten, zitternden Stamm. Jeder Tropfen flüsterte: «Lass los.»

Ein Blitz schlug in den nackten Stamm. Der Donner schrie «JETZT!»

Ein letztes mal weitete sich der Spalt, gab einen Körper frei, der zu Boden fiel.

Und der Donner sprach mit anerkennend Stimm: «Wohlan. Es ist vollbracht.»

Der Körper lag bewegungslos vor dem Baum. Schmerzend Spalt schloss sich.

Der Morgen danach.

Der Vollmond verliess seinen Platz auf dem Baum; an seine Stelle setzte sich die Sonne.

Der Körper erwachte, erhob sich.

«Willkommen, Bruder Mann!» sagte der Baum.

«Willkommen, Bruder Baum!», sagte der Mann.

Ein paar Regentropfen fielen, streichelten des Mannes Gesicht.

«Willkommen, Bruder Regen», flüsterte der Mann lächelnd.

Der Baum reckte dürre Äste gen Himmel. Der Blitz ergriff sie.

«Willkommen Bruder Blitz; Willkommen, Bruder Donner!» schrie der Mann.

Die dürren Äste begannen zu brennen.

«Willkommen, Bruder Feuer!» sagte der Baum.

Er hielt dem Mann das Feuer hin.

Der Mann nahm das Feuer an, begann zu brennen.

«Tanz mit dem Feuer!», riefen seine Brüder.

Elf Vollmonde lang tanzte Bruder Mann.
Elf Vollmonde lang war er tanzend Feuer.
Strahlend vor Glück war seine letzte Glut.
Zum Abschied weinte Bruder Regen;
seine Tränen trugen des Mannes Asche zum Fluss.

Mit der Nacht kam
zum zwölften mal der Vollmond.
Er setzte sich auf des Baumes höchsten Ast
und flüsterte mit magisch Stimm:
«Alles ist bereit.»

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