Patrick Pierer | 3. Februar 2025
Hochsensibilität ist ein Begriff, der in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erhalten hat. Er beschreibt Menschen, die eine besondere Empfindsamkeit für Reize aus ihrer Umgebung besitzen und dadurch oft intensiver auf Emotionen, Stimmungen und Sinneseindrücke reagieren. Doch was steckt hinter dieser Eigenschaft? Ist es nur ein Charakterzug oder eine tiefere Dynamik, die auf Erfahrungen in unserer Lebensgeschichte zurückgeht?
Hochsensibilität und Traumata: Ein tieferer Blick
In meiner persönlichen Erfahrung durfte ich erkennen, dass meine Hochsensibilität eng mit meinem Fokus auf andere Menschen und meine Umgebung verknüpft ist. Lange Zeit war ich nahezu permanent damit beschäftigt, potenzielle Gefahren zu scannen und mein Umfeld zu kontrollieren. Warum? Weil ich mich innerlich unsicher fühlte.
Diese Unsicherheit führe ich heute auf unverarbeitete Traumata zurück, wie sie in Ansätzen wie Somatic Experiencing, NARM oder der Polyvagal-Theorie beschrieben werden. Traumata in diesem Kontext bedeuten nicht unbedingt gravierende, offensichtliche Ereignisse, sondern können auch subtilere, sich wiederholende Erfahrungen umfassen, die das Nervensystem überlasten und das Gefühl von Sicherheit beeinträchtigen.
Einen entscheidenden Impuls erhielt ich in einem Vortrag von Dr. Roger Ziegler. Seine Aussage, dass Hochsensibilität oft eine Folge von Traumata ist, machte mir die Mechanik dahinter bewusst: Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, entwickeln oft eine erhöhte Wachsamkeit, um potenzielle Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und darauf reagieren zu können. Diese Erkenntnis löste in mir eine unerwartete Dankbarkeit für meine eigene Geschichte aus. Meine Hochsensibilität ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein Zeichen meiner Überlebensfähigkeit. (Mehr zu Dr. Roger Zieglers Ansatz finden Sie hier.)
Der Weg zurück zu mir selbst
Mit diesem Bewusstsein begann für mich eine tiefgehende Veränderung. Ich erkannte, dass ich mein Wohlbefinden davon abhängig machte, wie sicher ich mich in meiner Umgebung fühle. Indem ich mit meiner Wahrnehmung stets bei anderen Menschen war, verlor ich jedoch den Kontakt zu mir selbst. Diese äußere Orientierung fühlte sich zerrissen und anstrengend an.
Ein Schüsselmoment war die Erkenntnis, dass ich mich oft vor mir selbst „flüchtete“, weil ich bestimmte Anteile in mir nicht fühlen wollte. Solange diese abgespaltenen Teile in mir unerkannt blieben, suchte ich Zuflucht im Außen. Doch als ich begann, meine Aufmerksamkeit bewusst nach innen zu lenken, entdeckte ich eine wichtige Wahrheit: Ich habe es verdient, mit all meinen Anteilen bei mir zu bleiben. Diese Einsicht war nicht nur intellektuell, sondern tief in meinem Gefühl verankert.
Selbstliebe als Schlüssel
Der vielleicht größte Wandel kam mit der Erkenntnis, dass ich mir selbst Zuneigung, Fürsorge und Präsenz schenken darf. Diese Qualitäten im Außen zu suchen, macht uns oft abhängig. Doch wenn ich sie in mir finde, werde ich unabhängig von der Bestätigung durch andere. Ich durfte lernen, dass Selbstliebe die Basis für innere Sicherheit ist. Nur wenn ich mir selbst diese Liebe gebe, kann ich mich wirklich in Frieden fühlen.
Hochsensibilität als Chance
Heute sehe ich Hochsensibilität nicht mehr als Einschränkung, sondern als eine Eigenschaft, die mit der richtigen Haltung neue Möglichkeiten bietet. Ein entscheidender Aspekt ist die bewusste Steuerung meiner Aufmerksamkeit. Ich habe gelernt, meine Wahrnehmung bei mir zu halten und mich geistig abzugrenzen, ohne dabei meine Offenheit zu verlieren. Diese Balance gibt mir die Freiheit, auch in herausfordernden Situationen bei mir zu bleiben.
Hochsensibilität ist kein Urteil über mein Leben, sondern ein Ausdruck meiner Geschichte und eine Chance, tiefere Verbundenheit mit mir selbst zu finden. Durch die Arbeit an mir selbst – das Fühlen und Integrieren alter Themen – habe ich gelernt, mich selbst zu schützen und gleichzeitig in Frieden mit meiner Umwelt zu sein. Es ist ein Weg, der nicht immer leicht ist, aber er lohnt sich.
Ein Schlusswort
Wenn du hochsensibel bist, möchte ich dich ermutigen, deine Empfindsamkeit nicht als Schwäche zu sehen, sondern als Einladung, tiefer bei dir selbst anzukommen. Hochsensibilität kann eine Quelle von Kraft und Weisheit sein, wenn wir lernen, sie anzunehmen und zu lenken. Mit Selbstliebe, Abgrenzung und innerer Arbeit kann sie zu einem Weg der Heilung werden – für uns selbst und unsere Beziehungen zur Welt.
Patrick Pierer ist Schulleiter und arbeitet therapeutisch sowie als Coach: https://patrickpierer.ch/