Patrick Pierer | 26. Januar 2025
In einer Zeit, die zunehmend von Individualismus und Selbstverwirklichung geprägt ist, stellt sich die Frage, ob Vorbilder noch die gleiche Bedeutung haben wie früher. Die öffentliche Diskussion und wissenschaftliche Studien zeichnen ein ambivalentes Bild. Während einige Stimmen betonen, dass Vorbilder Orientierung und Inspiration geben, argumentieren andere, dass der Fokus auf Eigenverantwortung und Selbstentwicklung Vorbilder obsolet macht. Doch gerade in einer Gesellschaft, die oft von Oberflächlichkeit und ständigem Vergleich geprägt ist, stellt sich die Frage, welche Rolle Vorbilder spielen – insbesondere für Kinder und Jugendliche.
Jugendliche und ihre Vorbilder: Eine kritische Betrachtung
Es ist auffällig, dass Jugendliche sich häufig prominente Persönlichkeiten aus Sport, Musik oder Social Media als Vorbilder aussuchen – etwa LeBron James oder Neymar Jr. Doch wenn ich ihren Charakter betrachte, sehe ich oft Verhaltensweisen, die von inneren Konflikten, einem mangelnden Gefühl für Loyalität und beinahe narzisstischen Zügen geprägt zu sein scheinen. Aus einer psychologischen Perspektive wirken sie oft wie Menschen im „Überlebensmodus“: getrieben von der Angst, nicht genug zu sein, oder dem Drang, sich ständig beweisen zu müssen.
Warum suchen Jugendliche ausgerechnet solche Vorbilder? Vielleicht, weil sie in der heutigen Leistungsgesellschaft jemanden brauchen, der scheinbar alle Hürden überwunden hat – jemand, der Erfolg, Ruhm und Anerkennung symbolisiert. Doch oft bleibt die menschliche Seite dieser Persönlichkeiten verborgen. Jugendliche sehen den Glanz, nicht die Schatten dahinter.
Meine eigene Suche nach Vorbildern
Als Jugendlicher suchte ich verzweifelt nach männlichen Vorbildern in meinem direkten Umfeld – doch ich fand keine. So wandte ich mich bekannten Persönlichkeiten zu. Einer von ihnen war Michael Jordan. Er imponierte mir durch seinen eisernen Willen und die Kontrolle, die er über seinen Körper hatte. Besonders beeindruckte mich, wie er mit 39 Grad Fieber sein Team zum NBA-Titel führte. Ich hatte das Gefühl, dass er sich selbst hinter das Team stellte und seine Mitspieler besser machte. Ob das wirklich so war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Was ich aber weiß, ist, dass mein Wunsch nach einem solchen Vorbild ein Ausdruck meiner tiefen Sehnsucht nach starker, inspirierender Männlichkeit war, die ich in meinem direkten Umfeld vermisste.
Mit 17 traf ich schließlich einen Mann, den ich mir als Vorbild nahm: den Vater meiner ersten großen Liebe. Er wirkte auf mich präsent, bewusst und gefestigt – Eigenschaften, die ich mir für mich selbst wünschte. Später erkannte ich, dass ich ihn idealisiert hatte, doch in diesem Moment gab mir diese Inspiration Halt und Orientierung.
Warum Jugendliche Vorbilder in ihrem unmittelbaren Umfeld brauchen
Kinder und Jugendliche brauchen Vorbilder – nicht nur auf Bildschirmen, sondern vor allem in ihrem unmittelbaren Umfeld. Nur so können sie Inspiration erfahren und gleichzeitig die Menschen hinter der Fassade wahrnehmen – mit all ihren Herausforderungen und Grenzen. Diese menschliche Seite der Vorbilder hilft, eine gesunde Desillusionierung zu erleben: den Schritt weg von der „Vergötterung“ hin zur Erkenntnis, dass auch diese Menschen Fehler machen und lernen. Erst dadurch werden Jugendliche befähigt, ihren eigenen Weg zu gehen und das, was sie von ihren Vorbildern gelernt haben, auf ihre Weise umzusetzen.
Fehlt dieser direkte Kontakt, bleiben Jugendliche oft in unrealistischen Idealisierungen gefangen – ein Hindernis auf dem Weg zu einem gesunden Selbstbewusstsein und zur Eigenständigkeit.
Die Rolle als Vater und Lernbegleiter
Als Vater und Lernbegleiter erlebe ich es als Herausforderung, zu erkennen, wie stark meine Worte und Taten die jungen Menschen um mich herum beeinflussen. Gleichzeitig empfinde ich es als ein riesiges Geschenk. Es ist faszinierend, zu sehen, wie Kinder mir durch ihr Verhalten meine eigenen ungelösten Themen aufzeigen. Jeder Schritt, den ich für meine eigene Heilung gehe, hat einen unmittelbaren positiven Einfluss auf sie. Das bedeutet aber auch, dass ich meinen Fokus auf mein eigenes Wachstum legen darf: Achtsamkeit in der Beziehung, Vertrauen in den Entwicklungsprozess der Kinder und die Bereitschaft, loszulassen.
Ich habe gelernt, dass es nicht darum geht, perfekte Antworten oder Lösungen zu liefern, sondern authentisch zu sein und präsent zu bleiben. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, die in ihrer eigenen Kraft stehen, um ihnen zu zeigen, dass es möglich ist, aus dem Überlebensmodus herauszukommen und das eigene Potenzial zu leben.
Die Bedeutung von Gemeinschaft und bewussten Vorbildern
Als Vater von zwei Söhnen habe ich begonnen, bewusster mit meinem sozialen Umfeld umzugehen. Ich suche mir inspirierende Männer aus, mit denen ich Freundschaften pflege. Diese Menschen sind nicht nur eine Bereicherung für mich, sondern auch für meine Söhne. Wenn sie sich eines Tages von mir lösen – was ein natürlicher und notwendiger Prozess ist – möchte ich ihnen die Chance geben, auf eine Gemeinschaft von Menschen zurückzugreifen, die sie inspirieren und unterstützen.
Fazit: Vorbilder sind wichtiger denn je
Wir sind alle Vorbilder – ob wir es wollen oder nicht. Die Frage ist, ob wir solche sind, die andere inspirieren, ihr Potenzial zu leben. Der beste Weg, dies zu erreichen, ist, unser eigenes Potenzial auszuschöpfen. Das bedeutet, für uns selbst zu sorgen, aus dem Überlebensmodus auszusteigen und bewusst zu leben. Gerade in einer Welt, die von Stress und ständiger Überforderung geprägt ist, liegt hier die größte Herausforderung.
Kinder lernen nicht durch Worte, sondern durch Beobachtung. Wenn wir unsere eigenen Grenzen respektieren und uns selbst wertschätzen, geben wir ihnen ein starkes Fundament. Letztlich ist es unsere Aufgabe, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die nächste Generation voranzugehen – als bewusste, präsente und inspirierende Vorbilder.
Patrick Pierer ist Schulleiter und arbeitet therapeutisch sowie als Coach: https://patrickpierer.ch/
Danke Patrick,
eine wunderbare Einladung uns selber als Vorbild zu erkennen – immer auch mit der Frage: würde ich mir als Kind, mein erwachsenes Ich als Vorbild wählen?
Vielleicht können wir mit der Frage auch ganz viel unbewusste oder verdrängte Potentiale in uns wecken und leben. Die Welt braucht uns als verantwortungsbewusste und aufrichtige Vorbilder.