Patrick Pierer | 15.08.2022
Erfahrungsbericht über das European Men’s Gathering 2022
Fotos: Copyright by Maniphesto
Vom 3.-6. August 2022 trafen sich etwa 70 Männer unter dem Titel «The Death of the Patriarchs» in einem Sportinternat in der Abgeschiedenheit weit im Norden von Dänemark, in der Region Thy. Im Fokus standen die Themen «Initiation» und «Leadership». Das Programm war den Teilnehmern bei ihrer Ankunft nicht bekannt. Beide Themen durften die angereisten Männer auf intensivster Ebene erfahren – wenn auch vielleicht anders als erwartet.
Die Ausgangslage: 57 Teilnehmer hauptsächlich aus Dänemark, Holland, Schweden und Deutschland. Wir waren zu zweit aus der Schweiz angereist. Das Führungsteam bestand aus einem charismatischen Anführer, einem Ex-Nato-Soldat und einem auf den ersten Blick unscheinbaren Mann, der sich später als einer der Architekten des Anlasses herausstellte. Sie wurden unterstützt von einem Team von Helfern, einem Küchenteam und einem «Rat der Ältesten», bestehend aus einem Zen-Lehrer und einem griechisch-orthodoxen Priester aus den USA sowie einem Kirchenmann aus Südafrika – der Vater des Anführers. Aus Rücksicht auf zukünftige Teilnehmer wird in diesem Bericht nicht auf das Programm im Detail eingegangen, da es von der Unwissenheit und der Überraschung lebt. Ich fokussiere mich deshalb auf meine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse.
Begegnung mit der Vergangenheit
Das «European Men’s Gathering 2022» war eine durchgehend intensive Erfahrung für mich – körperlich, mental und emotional. Die Herausforderungen, welche mir begegneten, waren teilweise von den Urhebern des Anlasses bewusst geplant, und teilweise entstanden sie wohl aus der Konstellation heraus ohne eine bewusste Absicht. In diesen 3 Tagen begegnete mir nicht nur die Männlichkeit an sich, sondern das Patriarchat mit all seinen Facetten: Teamgeist, Loyalität, Brüderlichkeit, Zusammenhalt. Aber ebenso Dominanz, Kampf, Massenpsychologie, Machtmissbrauch und Dogmatismus. Ich fühlte mich zurückgeworfen in die Geschichte der letzten Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. In einem künstlichen Setting und einem halbwegs geschützten Raum durfte ich unsere traumatische Vergangenheit erfahren und dabei herausfinden, wie ich mich selbst darin verhalte.
Selbsterfahrung
Um es fassbarer zu machen, stelle ich hier die konkreten Fragen, welche ich in diesen 3 Tagen für mich beantworten durfte: Bin ich standhaft genug, um innerhalb einer Masse meine eigene Integrität zu wahren? Kann ich für meine Werte und Überzeugungen einstehen, auch wenn dies Nachteile für mich mit sich bringt? Kann ich meine Stimme erheben gegen eine vermeintlich übermächtige Opposition? Und die für mich wichtigste Frage: Kann ich trotz aller Differenzen und trotz meinen eigenen ablehnenden Gefühlen auf einen vermeintlichen Gegner zugehen und ihm mit Mitgefühl und Liebe begegnen? Bin ich auch in konfrontativen Situationen fähig, zu verbinden statt zu trennen?
Integrität – Verantwortung – Mitgefühl
Die Antworten, welche ich für mich erfahren durfte, wichen teilweise stark von meinem Wunsch-Selbstbild ab. Vor allem der Unterschied zwischen Integrität und Verantwortung im Sinne von «Leadership» wurde mir schmerzhaft aufgezeigt. Integrität heisst, auf seine innere Stimme zu hören und dieser zu folgen. Integre Männer sind aber oft still in Gruppen, entscheiden für sich und lassen die anderen ihren Weg gehen. Verantwortung bedeutet, dass genau dieser integre Mann die Verantwortung für die Situation und für die Gemeinschaft übernimmt und seiner Integrität eine klare Stimme gibt. Er tut dies nicht aus Rebellion, sondern aus der Absicht heraus, allen eine Möglichkeit zu geben, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Es ist eine Handlung aus Mitgefühl. Er erkennt den Schmerz hinter aggressiven Handlungen. Und er begegnet selbst den heftigsten Widersachern mit einer liebevollen und dennoch klaren Haltung, weil er für sich den Kampf und die Spaltung nicht mehr weiterführen will. Dies waren die Herausforderungen, welche mir persönlich begegneten.
Heilung der Vaterwunde
In diesen 3 Tagen wurde mir die Möglichkeit geschenkt, in einer Reinszenierung vieler dunkler Teile meiner persönlichen und unserer kollektiven Vergangenheit eigene Traumata zu heilen. Und ich musste es selbst tun, denn Hilfe war dafür nicht vorgesehen. Obwohl in den Kerngruppen rege ausgetauscht wurde, hatte ich den Eindruck, dass die meisten Männer mit wieder aufgerissenen alten Wunden sich selbst überlassen wurden. Ich hätte mir gewünscht, dass die meines Erachtens benötigte Unterstützung Teil des Programms gewesen wäre. Männer, die ihre Werkzeuge und Erfahrung in der Heilung dieser Wunden anderen zur Verfügung stellen. Und dass es mehr Räume gehabt hätte, um das Erfahrene zu verarbeiten und sich die Dynamiken dahinter bewusst zu machen. Ich bin der Meinung, dass hier ein grosses Potenzial verschenkt wurde.
Oder Retraumatisierung?
Denn es war durchaus die Absicht der Organisatoren, die Vaterwunde zu heilen, das war spürbar. Dass bei der Ehrungsrede an den Vater am dritten Tag die Hälfte der Männer immer noch zum allergrössten Teil ihren Schmerz und ihre Enttäuschung gegenüber diesem Ausdruck verliehen und es nicht vermochten, die Qualitäten ihres Vaters zu ehren, war ein Indiz dafür, dass diese Absicht nur zum Teil umgesetzt werden konnte. Dieser Eindruck verstärkte sich am vierten und letzten Tag, als wir die Aufgabe hatten, das Erlebte in einem Bühnenstück zu verarbeiten: Die Aufführungen waren geprägt von Sarkasmus, Absurdität sowie schwarzem und groteskem Humor, was aus meiner Sicht ein Zeichen von Überforderung war. Es drängt sich mir die Frage auf, wie viele Männer mit einer Heilung und wie viele mit einer Retraumatisierung nach Hause gingen.
Konkrete Ansätze
An diesem letzten Tag sprachen wir dann auch über konkrete Ansätze, um den gemachten Prozess und die Erkenntnisse nachhaltig im Alltag zu verankern. Es wurde bewusst gemacht, wie wichtig ehrliche und vertrauensvolle Männerfreundschaften und regelmässiger Austausch in Gruppen für Männer sind, um ehrliche Feedbacks zu erhalten, Gruppenzugehörigkeit zu fördern und um Verbindlichkeit sicherzustellen. Anspruchsvoll für mich war die Aussage, dass der Weg aus der Überforderung und dem Schmerz in einer «chaotischen und aus den Fugen geratenen Welt» darin bestünde, sich auf die Qualitäten unserer Vorväter zu besinnen und für sich eine bestehende Geschichte auszuwählen, in welcher «die Welt noch eine Ordnung und Struktur hat». Diese Geschichte solle uns als Leitbild in unserem Leben dienen.
Alte Geschichten?
Diese Botschaft löste auch im Plenum Widerstand aus. Einige Männer fühlten sich zu etwas gedrängt und drückten ihren Unmut aus. Die Aussagen dieser Männer würde ich folgendermassen zusammenfassen: «Wie sollen wir eine Welt verbessern mit jenen Prinzipien, welche zu ihr geführt haben?» Einstein stellte fest, dass Probleme nie mit derselben Denkweise gelöst werden können, durch welche sie entstanden sind. Somit kann auch die Überforderung und der Schmerz nicht mit jenen Geschichten beseitigt werden, durch welche sie entstanden sind. Vergangene Geschichten dienen folglich vielleicht als Inspiration, nicht aber als Lebensentwurf.
Erwachsenwerden
Und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es genau so unsinnig ist, die Vergangenheit und unsere Vorväter abzulehnen. Denn wir sind Kinder dieser Geschichte und ob wir wollen oder nicht, es ist unser Erbe. Und nur wenn wir dieses mitsamt ihren schmerzhaften Teilen annehmen, können wir uns selbst ermächtigen, neue Wege zu gehen. Solange wir den Schmerz vermeiden, suchen wir entweder blind Zuflucht in der Vergangenheit, oder aber wir töten symbolisch unsere Väter und werden paradoxerweise die gleiche Welt nochmals erschaffen. Genau diese zwei Seiten zeigten sich dort im Plenum. Was meines Erachtens sterben muss ist die Sehnsucht nach einem Vorbild, die Sehnsucht nach einem Vater, der uns beschützt und führt. Mir wurde klar: Der Weg zum Erwachsenwerden führt durch den Schmerz.
Die eigene Geschichte schreiben
Hinter dem Schmerz finden wir Mitgefühl und die Einsicht, dass alle vor uns gute Absichten hatten und ihr Bestmöglichstes getan haben. Dann haben wir die Freiheit, die Qualitäten und edlen Werte unserer Väter und Vorväter zu ehren und als Geschenk anzunehmen. Und ihnen zu vergeben und bei ihnen zu lassen, was wir nicht weitertragen wollen. Wir treten aus der Kindes- und Opferrolle heraus und werden selbst zu Vätern dieser Welt, die ihre eigene Geschichte schreiben. Und ich hatte das besondere Glück, in einer Kerngruppe zu sein, die genau dies am letzten Tag in ihrem Bühnenstück tat. Was ich weiter oben über Integrität, Verantwortung und Mitgefühl geschrieben habe, ist die Essenz dieser Geschichte. Dieser Prozess war möglich, weil wir die Heilarbeit selbst in die Hand genommen haben. Ein wohlwollender Leiter, der uns den Raum dafür gab, war dafür genauso wichtig wie Männer mit den passenden Werkzeugen und starke Persönlichkeiten in der Gruppe.
Eine Initiation
Für mich fühlt sich das European Men’s Gathering wie eine Initiation an. Was ich zurücklasse ist die Erwartung, dass andere Menschen für mich entscheiden und handeln. Ich nehme Vertrauen mit in meine Integrität, aber noch viel mehr ins Leben. Dass es mich unabhängig von den Umständen auf seine Art unterstützt, wenn ich dafür bereit bin. Und ich nehme die Demut mit, dass ich bereits morgen wieder über mein eigenes Wunsch-Selbstbild stolpern kann. Somit empfehle eine Teilnahme am European Men’s Gathering jenem Mann, der wirklich entschlossen ist, seine Initiation zum Mann zu vollenden und dabei bereit ist, diese selbst in die Hand zu nehmen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und Hilfe einzufordern, wenn er sie benötigt. Denn darum geht es meines Erachtens bei der Mannwerdung.
Link zur Webseite des European Men's Gathering von Maniphesto