November 29

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No More Drama: Teil 2 – Transformation des Drama-Dreiecks


Patrick Pierer & Niculin Parli | 29.11.2024

Nachdem wir in Teil 1 das Dramadreieck und seine Dynamiken erkannt haben, wollen wir nun den nächsten Schritt gehen: Wie verlassen wir dieses belastende Muster? Und noch wichtiger: Wie verwandeln wir die Rollen von Täter, Opfer und Retter in ihre gesunden, heilsamen Formen? Der Weg aus dem Drama beginnt mit der Erkenntnis, dass die Wurzeln dieser Rollen oft in unverarbeiteten Trauma-Erfahrungen liegen. Trauma prägt nicht nur unsere Reaktionen, sondern auch unsere Beziehungsmuster. Die gute Nachricht: Heilung ist möglich.

Der vorliegende Text ist eine Momentaufnahme unserer Forschung mit uns selbst, mit Klienten, Organisationen und Schülern, in welchen wir Teil sind und / oder welche wir begleiten dürfen. Unsere Beobachtungen legen nahe, dass Erkenntnisse aus der Traumatherapie wie NARM, Somatic Experiencing©, systemische Arbeit, Polyvagal-Theorie, Bindungstheorie und Neurobiologie sich nicht nur ergänzen, sondern integrierbar sind in eine multiperspektivische Betrachtungsweise, in welcher die unterschiedlichen Erkenntnisse einander bereichern und sich gegenseitig vervollständigen. Das Drama-Dreieck fungiert dabei als zentrales und integrierendes Modell und die einzelnen Rollen entstammen den Überlebensmechanismen des Stammhirns einerseits, den systemischen Rollen (Vater, Mutter & Kind) andererseits. Diese systemische Perspektive lädt uns dazu ein, die Rollen des Dramadreiecks nicht auf Traumareaktionen zu reduzieren, sondern sie differenziert ebenso als heilsame Potenziale zu erkennen. Man könnte auf einer philosophischen Ebene darüber nachdenken, ob die Überlebensstrategien genauso wie die Liebesfähigkeit den gleichen Wurzeln entspringen und damit jegliche Trennung (bspw. nach evolutionären Hirnbereichen) relativieren.

Bei den Überlebensstrategien beobachten wir eine Hierarchie: Während Kampf und Flucht primäre Reaktionsmodelle zu sein scheinen, scheint die Erstarrung eine sekundäre Reaktion zu sein, wenn keine der anderen beiden Mechanismen Erfolg verspricht. Die vierte Reaktion der Unterordnung (engl. to fawn) sehen wir aktuell als einen der Erstarrung nahestehenden Reaktionsmechanismus.

Trauma als Wurzel des Dramadreiecks

Die dysfunktionalen Rollen im Dramadreieck – Täter, Opfer und Retter – entstehen aus Stammhirn-Reaktionen (Kampf, Flucht, Erstarrung, Unterordnung – engl. 4f: Fight, flight, freeze, fawn). Diese automatisierten Muster sind Überlebensstrategien, die durch traumatische Erfahrungen entstehen. Sie waren einst notwendig, um emotional oder physisch zu überleben, doch im Alltag können sie zu einer Sackgasse werden. Die Transformation dieser Muster erfordert sowohl Verständnis als auch gezielte Traumaheilung. Ein hilfreiches Konzept hierfür ist der „grüne Punkt“, der für einen Zustand jenseits des Drama-Dreiecks steht: Regulation, Präsenz und Handlungsfähigkeit.

Transformation der Rollen

1. Der Täter: Vom Kämpfer zum Schützer

  • Dysfunktionale Rolle: Der Täter handelt aus Wut und Kontrollbedürfnis, oft ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für andere. Seine Reaktion stammt aus der Stammhirn-Funktion „Kampf“.

  • Trauma-Wurzel: Unterdrückte Verletzlichkeit und das Gefühl, nicht sicher oder wertvoll zu sein.

  • Transformation: Mitgefühl und Verantwortung

    • Ein Täter heilt, wenn er Mitgefühl für sich selbst und andere entwickelt. Das bedeutet nicht, seine Wut zu unterdrücken, sondern sie als Signal für Bedürfnisse oder Grenzen zu nutzen.

    • In seiner gesunden Form wird der Täter zum Schützer, der seine Stärke einsetzt, um Verantwortung zu übernehmen und anderen Halt zu geben.

Unterstützung durch Bezugspersonen: Zeige Mitgefühl, ohne die destruktiven Handlungen zu tolerieren. Ermutige den Täter, seine Verletzlichkeit anzuerkennen.

2. Das Opfer: Vom Hilflosen zum Selbstermächtigten

  • Dysfunktionale Rolle: Das Opfer erstarrt vor Angst, gibt seine Macht ab und fühlt sich handlungsunfähig. Es lebt in der Stammhirn-Reaktion „Erstarrung“.

  • Trauma-Wurzel: Ein tiefes Gefühl von Unsicherheit oder Ohnmacht, oft aus frühen Erfahrungen der Abhängigkeit.

  • Transformation: Vertrauen und Selbstermächtigung

    • Heilung geschieht, wenn das Opfer lernt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und Vertrauen in seine eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln.

    • In seiner gesunden Form wird das Opfer zum Kind im Vertrauen – offen, authentisch und in der Lage, sowohl Unterstützung zu geben als auch zu empfangen.

Unterstützung durch Bezugspersonen: Biete Bestärkung und schaffe Räume, in denen das Opfer sicher kleine Schritte der Selbstermächtigung gehen kann.

3. Der Retter: Vom Helfer zur Fürsorge

  • Dysfunktionale Rolle: Der Retter flüchtet vor seinen eigenen Gefühlen, indem er sich auf die Probleme anderer konzentriert. Seine Reaktion entspricht der Stammhirn-Funktion „Flucht“.

  • Trauma-Wurzel: Der unbewusste Wunsch, die eigene Verletzung zu heilen, indem man andere rettet.

  • Transformation: Ehrlichkeit und Klarheit

    • Heilung bedeutet, dass der Retter erkennt, dass er nicht die Verantwortung für andere übernehmen muss, um wertvoll zu sein. Stattdessen lernt er, sich selbst und anderen klar und ehrlich zu begegnen.

    • In seiner gesunden Form wird der Retter zur fürsorgenden Mutterfigur, die echte Unterstützung bietet, ohne sich selbst zu verlieren.

Unterstützung durch Bezugspersonen: Hilf dem Retter, zu erkennen, dass er erst dann anderen helfen kann, wenn er sich um sich selbst kümmert.

Der grüne Punkt: Jenseits des Dramadreiecks

Im Somatic Experiencing© spricht man von einem Zustand der Regulation, der im Drama-Dreieck verloren geht. Dieser Zustand, der als „grüner Punkt“ bezeichnet wird, steht für:

  • Präsenz: Du bist im Hier und Jetzt, ohne in automatisierte Rollen zu verfallen.

  • Regulation: Dein Nervensystem ist weder in Panik noch in Erstarrung oder Überaktivität.

  • Handlungsfähigkeit: Du kannst bewusst entscheiden, wie du mit einer Situation umgehen möchtest und bist nicht reaktiv.

Der grüne Punkt ist kein fester Ort, sondern ein dynamischer Prozess. Traumaheilung und Körperarbeit helfen, diesen Zustand immer wieder herzustellen.

Heilung und Gleichgewicht: Ein neues Miteinander

Die Transformation des Dramadreiecks führt zu einem neuen Gleichgewicht zwischen Ich, Du und Wir:

  • Das Ich: Die Verbindung zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen (Schützer).

  • Das Du: Die authentische Beziehung zu anderen, geprägt von Vertrauen (Kind im Vertrauen).

  • Das Wir: Ein gemeinsamer Raum, der von Mitgefühl und Klarheit geprägt ist (Fürsorgende Mutterfigur).

Wenn wir diese Transformation selbst durchlaufen, können wir auch anderen helfen, ihre Rollen zu erkennen und zu heilen. Indem wir den Täter mit Mitgefühl, das Opfer mit Bestärkung und den Retter mit Ehrlichkeit unterstützen, schaffen wir einen Raum, in dem echte Begegnung und Heilung möglich sind.

Fazit

Der Weg aus dem Dramadreieck erfordert Mut, Selbstreflexion und manchmal Unterstützung von außen. Die gute Nachricht: Mit Traumaheilung und der Orientierung am „grünen Punkt“ ist es möglich, die destruktiven Muster zu durchbrechen und eine neue, gesunde Balance zu finden.

No more Drama? Ja, wenn wir die Dynamiken erkennen, die Traumaursachen angehen und uns selbst die Erlaubnis geben, ein Leben jenseits der alten Rollen zu führen. Ein Leben in echter Verbindung – mit uns selbst und mit anderen.

Patrick Pierer ist Schulleiter, Coach, Berater und Therapeut: https://patrickpierer.ch/

Niculin Parli ist Sekundarlehrer, Nervensystemforscher und Therapeut nach Somatic Experiencing© in Ausbildung

 

 

 

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