Patrick Pierer | 02.02.2025
Lange Zeit habe ich Souveränität mit Dominanz oder Autorität verwechselt. Ich glaubte, dass Souveränität in der Wirkung auf andere liegt, dass sie von ihrem Verhalten und ihrer Rückmeldung abhängt. Besonders als Mann erschien es mir herausfordernd, diesem Bild gerecht zu werden, da gesellschaftlich oft erwartet wird, dass Männer souverän auftreten – im Sinne von entschlossen, stark und kontrollierend.
Die Illusion der Kontrolle
Ich brachte Souveränität auch mit einem Gefühl von Zufriedenheit und Kontrolle in Verbindung. Doch wenn ich genau hinsah, erkannte ich, dass es oft nur eine Illusion war. Die gefühlte Kontrolle verlieh mir kurzfristig Energie, einen Kick, vielleicht ein Dopaminhoch. Doch danach folgte oft Erschöpfung. Das Streben nach dieser Art der Souveränität wurde zu einem ständigen Pendeln zwischen Aufbäumen und Erschlaffen, zwischen Selbstbehauptung und Erschöpfung. Keine Stabilität, kein Gleichgewicht, keine Nachhaltigkeit.
Eine tiefere Ebene des Verstehens
Diese Einsicht führte mich auf eine tiefere Ebene. Ich begann, Souveränität von einem unmittelbaren Gefühl der Befriedigung zu lösen. Stattdessen schuf ich Raum, ein Vakuum, in dem Souveränität eine neue Bedeutung annehmen durfte. Ich begann zu experimentieren. Situationen, die sich unangenehm und fordernd anfühlten, erwiesen sich im Nachhinein oft als souverän. Nicht, weil sie mir das Gefühl von Kontrolle oder Anerkennung gaben, sondern weil ich gemäß meinen Werten gehandelt hatte – trotz Versuchungen, Ängsten oder Unsicherheiten. Oft wich mein Verhalten von meinem inneren Idealbild von Souveränität ab, aber genau das war der Punkt: Ich wusste nicht – und weiß es bis heute nicht –, was Souveränität in einer bestimmten Situation bedeutet.
Souveränität als radikale Selbstannahme
Mit dieser Erkenntnis konnte ich mich weiter in das Verständnis von Souveränität sinken lassen. Ich begann zu begreifen, dass Souveränität nichts mit Perfektion oder einem bestimmten Zustand zu tun hat, sondern vielmehr mit radikaler Selbstannahme. Souverän zu sein bedeutet, mich selbst in meiner Gesamtheit anzunehmen – mit allen vermeintlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Es bedeutet, den Mut zu haben, zu mir selbst zu stehen und meiner inneren Wahrheit zu folgen. Es bedeutet, gut für mich zu sorgen, meine Grenzen zu wahren und mich nicht von äußeren Erwartungen oder inneren Selbstzweifeln treiben zu lassen.
Wahrnehmung jenseits von Kontrolle
Und dann gibt es manchmal diese Momente, die schwer zu beschreiben sind. Es gibt dann immer noch Impulse, in Form von Bildern oder einer inneren Stimme. Doch diese Impulse können von überall kommen – von „innen“ oder „außen“, von meinem Gegenüber oder sogar jemandem Unbeteiligten, von einem Tier oder einer Wettererscheinung. Es gibt dann aber keine Unterscheidung mehr. Ich bin einfach der Wahrnehmende, wie ein Beobachter, nicht mehr gefangen in dem, was passiert oder was ich darüber fühle oder denke. Die Basis dafür war immer die bedingungslose Annahme von dem, was (in mir) ist.
Die leise Kraft der Souveränität
Souveränität ist oft leise. Sie bleibt häufig ungesehen, unerkannt, nicht bestätigt. Doch sie ist kraftvoll, weise und voller Liebe. Und manchmal, manchmal bin ich dann wirklich souverän.
Patrick Pierer ist Schulleiter und arbeitet therapeutisch sowie als Coach: https://patrickpierer.ch/
Danke Patrick
Dein Erforschen des Ausdrucks Souveränität bestätigt mir einmal mehr, wie destruktiv Bewertungen und festgefahrene Meinungen im Leben wirken. So kann souveränes Verhalten viel Klarheit schaffen, z.B. über den Standpunkte einer Person, dabei aber offen lassen in welche Richtung der Prozess in einer Gruppe weiter geht. Wenn ich nicht werte oder meine Meinung durchdrücken will, entsteht ein Raum von Möglichkeiten in dem wir gemeinsam die für uns passendste Lösung finden können, fern von individuellen Meinungen. Das finde ich total Souverän 😉
Tolle Auseinandersetzung mit einem Thema, das allgegenwärtig ist und und als Begriff mit viel Inhalt hinter den Buchstaben trotzdem kaum Beachtung bekommt.
Von dort wo ich herkomme, habe ich mich souverän gefühlt, wenn ich die Fäden mit meinen Händen halten, mit Weitblick führen und leiten konnte und die Bewegungen daraus vorwärtsgerichtet waren. Heute fühle ich mich souverän, wenn es mir selber und meinen Mitmenschen gut geht. Wenn am Abend vor dem Einschlafen stille Dankbarkeit für das, was sein durfte in mir spürbar ist. Dann habe ich meinen Anteil für ein verbundenes und ebenso weiterführendes Miteinander beigesteuert.